Plädoyer für die Abschaffung des „Krieges“ (1995)

Ursprünglich abgedruckt in Berliner Debatte/INITIAL 6: 23-36.  Unveränderte Wiedergabe des Manuskripts.

 

I

„Krieg“ ist in aller Munde.  Die Golfintervention 1991, die Krisenherde Bosnien oder Tschetschenien, sie stehen auf jener langen Liste von Ereigniskomplexen, die mit dem Begriff „Krieg“ assoziiert werden.  Man kommt um ihre Erwähnung bei der Erörterung des Themas heute praktisch nicht herum.  Andererseits scheint es mir wichtig, sich von der erdrückenden, nur verzerrt wahrnehmbaren Allgegenwart des Tagesgeschehens oder der frischen Erinnerungen der letzten Jahre wegzubewegen und sich bei dem Versuch, „Krieg“ zu verstehen, um größere Distanz und damit um einen weiteren Blickwinkel zu bemühen.

Die moralische Verurteilung des „Krieges“ wird heute von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen.  Wir brauchen darüber nicht nachzudenken, es handelt sich um eine der fast unantastbaren Konventionen unserer heutigen Gesellschaften.  Diese Konvention hat ihren guten Sinn.  Das soll uns aber nicht daran hindern, sie als solche zu erkennen und nach dem Grund ihrer Entstehung, nach ihrer geschichtlichen Bedingtheit zu fragen.  Denn historisch gesehen ist diese allgemeine, kategorische Verurteilung des „Krieges“ relativ jungen Datums.

Eine Frage, die in der Diskussion der letzten Jahre besondere Aufmerksamkeit beansprucht hat und auch in anderen Beiträgen dieses Heftes zur Sprache gebracht wird, ist die, ob wir uns in Bezug auf „Krieg“ in einer Phase des Umbruchs befinden, ob das Phänomen im Begriff ist, seine Natur zu verändern, vielleicht gar obsolet zu werden.  Das Ende der Rivalität der Blöcke 1989 hat diese Debatte intensiviert.  Das ist nur natürlich: eine grundlegende Veränderung der politischen Rahmenbedingungen kann kaum anders, als eine Veränderung auch der politischen Verhaltensformen zu bewirken.  Unter diesen wiederum pflegen die stark gewalthaltigen, unter dem Rubrum „Krieg“ zusammengefaßten besonders auffällig zu sein.  Aber die Debatte über die Natur des „Krieges“, über seine Rolle in der Politik und über mögliche Veränderungen dieser Parameter ist so alt wie die zu Beginn dieses Jahrhunderts sich formierende Disziplin Internationale Beziehungen (IB).  Sie ist sogar noch etwas älter: es war eben diese Debatte, die zur Etablierung der neuen akademischen Disziplin erst geführt hat.

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg nämlich wiesen Autoren wie Jan Bloch, Norman Angell oder Kurt Riezler darauf hin, daß die rasch zunehmende Komplexität der Wirtschaftskreisläufe und die parallel dazu wachsende Interdependenz der entwickelten Staaten die Rolle des „Krieges“ gegenüber der vorindustriellen Zeit grundlegend verändern mußten und eine Anpassung der Politik an die neuen Gegebenheiten erforderlich machten.[1]  Wenn in Darstellungen der Entstehung der Disziplin IB üblicherweise die Rolle des Ersten Weltkriegs stark betont wird und tatsächlich die erste spezialisierte Professur für IB erst 1919 errichtet wurde, so weniger deshalb, weil der Weltkrieg neue Verhältnisse geschaffen hatte.  Vielmehr lieferte er den eklatanten Beweis dafür, daß die These von der neuen Gefährlichkeit des „Krieges“ in der industriellen Moderne, bereits vorher vertreten, aber nur zögernd oder gar nicht rezipiert, richtig war.

Dieser Aufsatz basiert auf zwei wesentlichen Feststellungen.  Erstens glaube ich, daß die Sicht des „Krieges“ als fundamentales gesellschaftliches Problem und unsere Art des intellektuellen Umgangs damit eine epochenspezifische Erscheinung der industriellen Moderne ist.  Zweitens bin ich der Meinung, daß der Begriff  „Krieg“ als Konzept so amorph ist, daß er den Zugriff auf die darunter subsumierten, sehr verschiedenartigen Tatbestände erschwert.  Als analytische Kategorie ist er nicht nur unbrauchbar, er stiftet erhebliche Verwirrung.

Wenn in Bezug auf „Krieg“ nach Umbrüchen und Veränderungen gesucht wird, so ist es nötig, sich zuerst und vor allem der Bedeutung der industriellen Revolution als Wasserscheide in der Geschichte des „Krieges“ bewußt zu werden.  Alle übrigen Entwicklungen der letzten hundert oder hundertfünfzig Jahre treten gegenüber dieser Umwälzung an Bedeutung zurück und sind aus ihr ableitbar.  Daß die Auswirkungen der Industrialisierung auf den „Krieg“ weitreichend sind, bedarf keiner umständlichen Erläuterung.  Viele dieser Auswirkungen sind sozusagen mit bloßem Auge und ohne die Hilfe komplizierter Analysen sichtbar.  Es mag darum banal erscheinen, diese Feststellung so stark zu unterstreichen.  Mir scheint es aber aus dem Grund notwendig, daß wichtige Konsequenzen daraus in der heutigen Diskussion über „Krieg“ nicht gezogen werden.

Bestärkt durch die Vagheit des Begriffs, tun wir zum Beispiel oft so, als sei „Krieg“ etwas seit Urzeiten Vertrautes, als könnten wir, wenn schon nicht auf viel Erfolg bei seiner Bekämpfung, so doch auf einen großen Schatz an einschlägigen historischen Erfahrungen verweisen.  Wir tun so, als wüßten wir, wovon wir reden, wenn wir „Krieg“ sagen.  Das führt zu einer resignativen Grundstimmung, die „Krieg“ als eigentlich ewig und schicksalhaft betrachtet.  Wenn dann zu seiner Überwindung bloß an Moral und guten Willen appelliert wird, sei es noch so inbrünstig, so wirkt das unglaubwürdig und nimmt vielfach den Charakter einer Bußübung an.  Der Wahrnehmung historischer Tendenzen und der Möglichkeit ihrer Ausnutzung hat sich die Friedensbewegung — durchweg eher „anti-modern“ gestimmt — bisher verschlossen.  Sie selbst ist damit mehr Symptom dieser Tendenzen geblieben, als zum Movens zu avancieren.

Wenn „Krieg“ in der Epoche der Industrialisierung sich von „Krieg“ in der vorindustriellen Zeit grundlegend unterscheidet, so heißt das unter anderem, daß unsere Erfahrungen damit bestenfalls bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts, in die Zeit des Krimkrieges oder des Amerikanischen Bürgerkrieges als ersten Vorläufern dieser neuen Bedrohung zurückreichen.  Weiter liegt auf der Hand, daß es sich bei der Industrialisierung um kein isoliertes, zeitlich eingrenzbares Ereignis, sondern um einen Prozeß handelt, und zwar um einen ungebrochen anhaltenden: wenn dieser Prozeß aber, wie deutlich, Auswirkungen auf jene Phänomene hat, die wir mit der Vokabel „Krieg“ belegen, so dürften auch sie einer steten Tendenz zum weiteren Wandel unterliegen.

Allem Gerede vom Anbruch einer vermeintlich „post“-modernen oder „post“-industriellen Zeit zum Trotz ist die Dynamik der mit der Industrialisierung einhergehenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungen unverändert groß.  Wir stehen überhaupt erst am Anfang dieses Prozesses.  Mit dem ersten Übergang zu energieintensiver, mechanisierter Massenfertigung anstelle der früheren Wirtschaftsweise mit ihrem vornehmlichen Einsatz von menschlicher und tierischer Körperkraft ist ja die Industrialisierung nicht schon vorbei.  Zum einen ist dieser Übergang in vielen Ländern noch nicht abgeschlossen, zum anderen ist das Innovationspotential der industriellen Wirtschaftsweise noch keineswegs erschöpft.  Die technologische Entwicklung schreitet weiterhin schnell voran.  Wir können heute noch nicht absehen, wann der Prozeß der Industrialisierung auf einen relativ stabilen, nur noch langsamen Wandlungen unterworfenen status quo zulaufen wird; aber des Übergangscharakters der Zeit, in die unsere Lebensspannen fallen, sollten wir uns stärker bewußt werden.

Seit rund anderthalb Jahrhunderten bewegen wir uns in den „entwickelten“ Ländern rapide von der Lebenswelt unserer agrarisch geprägten Vorläufergesellschaften fort.  Sehr viel langsamer hingegen verabschieden wir uns von ihrer Vorstellungswelt, halten vielmehr noch immer mit Vorliebe an mittlerweile archaischen Denkweisen fest.  Diese Beobachtung gilt auch für den „Krieg“.  Soweit unter der Vielzahl der Erscheinungen, die mit diesem Wort belegt werden, eine vorherrschend gemeinte auszumachen ist, handelt es sich auch hier um ein wahrscheinlich überlebtes Konzept, dessen Wurzeln in der frühen europäischen Neuzeit zu suchen sind.  Ich meine hier das Konzept der bewaffneten Auseinandersetzung zwischen „souverän“ genannten Staaten.

 

 

II

Lassen wir uns aber nicht vorschnell auf diese Festlegung ein, sondern fragen wir zunächst allgemeiner.  Was heißt eigentlich „Krieg“?  „Krieg“ hat etwas mit Konflikt zu tun: das ist in der Tat alles, was a priori feststehen dürfte.  Jeder Versuch der weiteren Eingrenzung stößt unweigerlich auf Schwierigkeiten.  Erasmus von Rotterdam zog daraus die radikale Konsequenz, sich auf Eingrenzungen nicht einzulassen.  In seiner „Klage des Friedens“, einem Traktat von 1517, sind „Krieg“ und „Frieden“ semantische Gegenpole, die sich exakt entsprechen, respektive definiert als „Zwietracht“ und „Eintracht“.  Dieses so definierte Begriffspaar ist universell anwendbar.  Wenn eine eingrenzende Definition von „Krieg“ auf eine Präzisierung entweder der Konfliktparteien oder der Form des Konfliktaustrags oder beides hinausläuft, dann bedeutet umgekehrt Erasmus‘ bewußter Verzicht auf solche Präzisierung, daß jede Art und Anzahl von Trägern und jede Art von Konflikt „Krieg“ erlaubt: ubiquitär, existiert er zwischen verfeindeten Fürsten und Reichen genauso wie zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder innerhalb dieser Gruppen, innerhalb der Familie, zwischen Eheleuten und sogar innerhalb des von konträren Impulsen hin- und hergerissenen Einzelmenschen.  „Krieg“ als Zwietracht ist für Erasmus ein fundamentales und einheitliches menschliches Problem, dessen Erörterung er bewußt nicht auf Einzelaspekte reduzieren will.[2]

Erasmus betrachtet „Krieg“ vom Standpunkt des Philosophen und vor allem des Theologen.  Eine solche Sichtweise ist uns heute fremd: wir sehen die Sache gesellschaftlich und politisch.  Wählen wir eine allgemein gesellschaftliche Sichtweise, so kommen als Träger von „Krieg“ nur Gruppen, nicht Individuen in Frage, und der Gebrauch des Begriffs unterstellt einen gewalttätigen Konfliktaustrag zumindest als den Normalfall.  Über die Art der betreffenden Gruppen muß dabei noch nichts gesagt werden.  Es könnte sich dabei zum Beispiel um nichtstaatlich organisierte Verbände bei Naturvölkern handeln, um rivalisierende Jugendbanden oder auch um kriminelle Vereinigungen („Bandenkrieg“).

Wollen wir „Krieg“ als „politisches“ Phänomen betrachten, ist eine weitere Verengung des Begriffs nötig.  Die schwierige Frage, was denn genau mit „politisch“ zu bezeichnen sei, kann hier nicht behandelt werden.  Ohne damit die Möglichkeiten einer „politischen“ Sicht des „Krieges“ bereits als erschöpft zu betrachten, erscheint jedoch das Postulat pragmatisch, daß eine wie immer geartete Verbindung des Begriffs mit dem Phänomen der Staatlichkeit eine solche Sicht darstellt.  Die radikalste, semantisch sauberste Definition von „Krieg“ ist dann die Jean-Jacques Rousseaus, der Krieg ausschließlich als gewaltsamen Konflikt zwischen Staaten verstanden wissen will: am saubersten deshalb, weil hier mit einer einzigen Trägerkategorie gearbeitet wird, die noch dazu eine Art politische „Urkategorie“ darstellt.[3]

Wie die Definition Erasmus‘, so ist auch die Rousseau’sche zwar logisch bestechend, aber doch auch unbefriedigend.  Beinhaltet Erasmus‘ Definition sehr viel, so grenzt Rousseaus sehr viel aus.  Es ist kein Zufall, daß Rousseaus Definition aus dem 18. Jahrhundert stammt, d.h. aus einer Zeit, wo der Staat europäischen Typs zwar bereits souverän, aber noch vorindustriell war.  Rousseaus radikale Eingrenzung des Begriffs „Krieg“ ist selbst für das 18. Jahrhundert nicht unbedingt repräsentativ; aber zu einem früheren Zeitpunkt hätte ein so restriktiver Gebrauch des Begriffs erst gar keinen Sinn gemacht.  Dies unter anderem deshalb, weil Rousseaus Definition „Bürgerkrieg“ bewußt nicht miteinschließt.  Zur Zeit der Anfänge des „souveränen“ Staates in der frühen Neuzeit, dem 16. und 17. Jahrhundert, war gerade diese Art von Konflikt aber sowohl relativ häufig als auch in der Sicht politischer Denker wie Bodin, Hobbes oder Spinoza die weitaus wichtigere, da gefährlichere.[4]  Erst der gefestigte „souveräne“ Staat des späten ancien régime, eben des 18. Jahrhunderts, fürchtete ihn kaum mehr.

Für den Staat des 19. Jahrhunderts, der Epoche der einsetzenden Industrialisierung, machte die Rousseau’sche Begriffsverengung noch Sinn.  Die tradierten staatsrechtlichen Konventionen und Sichtweisen der vorindustriellen Zeit wirkten durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch fort und wurden von den Völkerrechtlern noch ausgebaut.  Auch für den Staat des 19. Jahrhunderts war interner bewaffneter Konflikt untypisch, während die nicht seltenen zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikte die Gesellschaften noch nicht in ihrer Substanz gefährdeten.  Und für unsere Vorstellungswelt, am Ende des 20. Jahrhunderts, gilt im großen und ganzen, daß die damaligen Konventionen und Sichtweisen, wenn auch zunehmend abgeschwächt, immer noch weiterwirken.  Dabei haben sie sich von der politischen Wirklichkeit inzwischen weit entfernt.

Unser Bild des „Krieges“ wird immer noch maßgeblich durch die Vorstellung des bewaffneten Konflikts zwischen Staaten geprägt.  Er gilt uns noch immer als Prototyp, und wir fürchten ihn nach wie vor.  Aber wir würden nicht so weit gehen wie Rousseau und die Verbindung zwischen „Krieg“ und Staatlichkeit auf diese eine Konstellation beschränken.  Wir sehen „Bürgerkrieg“, Konflikt um den Staat zwischen rivalisierenden Parteien, als eine sozusagen gleichberechtigte politische Form von „Krieg“.  Gleichberechtigt in dem Sinn, daß wir den Begriff aufhebenslos auf diesen Typ des Konflikts wieder ausdehnen.

Ist das aber der Logik nach sinnvoll?  Rousseaus Beschränkung der Vokabel auf zwischenstaatlichen Konflikt geschah ja nicht von ungefähr.  Auch die Griechen der Antike mit ihrem entwickelten Sinn für semantische Unterscheidungen benutzten bekanntlich für diese beiden Typen des bewaffneten politischen Kampfes unverwandte Begriffe: stasis für den inneren, polemos für den äußeren Konflikt.  Autoren wie Herodot oder Platon trennen nicht nur zwischen diesen Kategorien, sondern betonen ausdrücklich, wie weit die damit bezeichneten Tatbestände voneinander entfernt seien.  Dies deshalb, weil stasis für das politische Gemeinwesen bei weitem gefährlicher sei als polemos.  Ihm wurde, wie bei den erwähnten Denkern der frühen Neuzeit, ein ganz anderer politischer Stellenwert zugemessen.[5]

Soweit ich weiß, ist keine europäische Sprache dem griechischen Beispiel der strikten semantischen Trennung dieser zwei Konflikttypen gefolgt.  Im Lateinischen ist, wie im Deutschen, bellum civile, „Bürgerkrieg“ auch sprachlich ein Spezialfall von bellum, „Krieg“; ebenso in anderen europäischen Sprachen.  Es bleibt aber festzuhalten, daß die Zurechnung beider Konflikttypen zu einer einzigen Grundkategorie nicht ohne Probleme möglich ist.  Ob und wie emphatisch man zwischen diesen beiden Typen unterscheidet, ist eine Frage, die wohl im Licht der jeweiligen epochenspezifischen Situation beantwortet werden muß.

Eine der gängigsten Definitionen von „Krieg“ in der heutigen Sozialwissenschaft — ursprünglich von István Kende entwickelt und unter anderem auch vom Stockholmer Friedensforschungsinstitut (SIPRI) übernommen — legt für das Vorliegen von „Krieg“ drei Kriterien fest.  Es müssen erstens in dem Konflikt zumindest auf einer Seite reguläre Regierungsstreitkräfte zum Einsatz kommen (Militär, paramilitärische Einheiten oder Polizeitruppen).  Zweitens muß auf beiden Seiten ein Mindestmaß an zentraler Lenkung vorhanden sein.  Drittens müssen Kampfhandlungen mit einer gewissen Kontinuierlichkeit stattfinden.[6]

Hier wird also zwischen binnen- und zwischenstaatlichen Konflikten zunächst einmal bewußt nicht unterschieden; was natürlich nicht ausschließt, daß darauf aufbauend dann zu Analysezwecken doch Typologien ausgearbeitet werden.  Kende selbst unterscheidet zwischen „Anti-Regime-Kriegen“, „sonstigen innerstaatlichen Kriegen“ und „zwischenstaatlichen Kriegen“.  Klaus-Jürgen Gantzel und Jörg Meyer-Stamer übernehmen diese Typologie, ergänzen sie jedoch um den Typ des „Dekolonisationskrieges“.  Weiter postulieren sie die Existenz von Mischtypen sowie die Möglichkeit, daß der „Kriegstyp“ während des Verlaufs des Konfliktes Änderungen unterworfen sein kann.  Schließlich unterscheiden sie darüber hinaus hinsichtlich des „Kriegstyps“ auch noch Konflikte mit „Fremdbeteiligung“ (nämlich „ausländischer Mächte“) von solchen ohne dieses Merkmal.  Das ist noch nicht alles: neben die Unterscheidung der „Kriegstypen“ tritt bei ihnen die der „Konfliktarten“.  Diese werden unterteilt in „Systemkonflikte“, „Machtkonflikte“, „Territorialkonflikte“ und Konflikte um „Fremdherrschaft“.  Alle vier Gruppen werden dann noch weiter untergliedert, so daß sich insgesamt vierzehn „Konfliktarten“ ergeben.[7]  Die entstehende Matrix ist zumindest jenseits der Darstellbarkeit komplex; ob dem Bemühen um methodologische Subtilität ein entsprechender Gewinn an Erkenntnisklarheit entspricht, ist eine andere Frage.  Deutlich wird bei diesem Versuch der Untergliederung vor allem, wie wenig einheitlich das vermeintliche Grundphänomen „Krieg“ offenbar ist.

Bei alledem bleibt im übrigen immer noch das Problem, daß die von Kende vorgenommene Eingrenzung zwar pragmatisch ist, daß sie aber Aspekte und Gedanken außer Acht läßt, die in der politischen und politikwissenschaftlichen Diskussion eine wichtige Rolle gespielt haben und noch spielen.  „Krieg“ liegt nach Kendes Definition nur da vor, wo kontinuierliche organisierte Gewalthandlungen stattfinden.  Es gibt aber eine wichtige Tradition des politischen Denkens, die jede Koexistenz politischer Einheiten ipso facto als „Kriegs“zustand betrachtet, wenn diese Einheiten keiner gemeinsamen Regierungsgewalt unterworfen sind (möge es sich dabei um Individuen vor der Begründung des Staates oder eben die Staaten selbst handeln).  Bereits bei Platon erörtert, hat dieser Gedanke seine berühmteste und emphatischste Formulierung durch Thomas Hobbes erfahren.  Für Hobbes herrscht bekanntlich ein Zustand des „Krieges“ nicht nur da, wo Gewalthandlungen kontinuierlich stattfinden, sondern da, wo es keine Gewißheit gibt, daß sie nicht stattfinden: so vor allem im Verhältnis der Staaten zueinander.[8]

Weiter gilt, daß zwar anhaltende organisierte Gewalthandlungen üblicherweise als ein Hauptmerkmal des „Krieges“ angesehen werden, daß das Wort aber besonders in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg häufig auch auf Konflikte ausgedehnt wird, die nicht oder nicht maßgeblich durch offene Gewaltanwendung zwischen den Kontrahenten geprägt sind.  Hierfür ist der „Kalte Krieg“ ein Beispiel, ebenso Metaphern wie „Handelskrieg“, „Wirtschaftskrieg“ u.dgl.  Dieser Hinweis auf Konflikte, die nicht den Kende’schen Kriterien entsprechen und dennoch mit dem Begriff „Krieg“ belegt werden, ist keine Spitzfindigkeit.  Vielmehr scheint mir diese Ausweitung, ja Umwidmung des Begriffs „Krieg“ nur deshalb möglich geworden zu sein, weil wir in einer Zeit leben, die trotz eines global gesehen anhaltend hohen Gewaltniveaus durch einen Trend weg von tradierten Formen des gewaltsamen Austrags politischer Konflikte gekennzeichnet ist.  Lesen wir in Geschichtsbüchern von „Handelskriegen“, so assoziieren wir Pulverdampf und Seeschlachten.  Erscheint der Begriff in unserer Morgenzeitung, so wird von Importkontingenten und Strafzöllen die Rede sein.

Schließlich ist festzustellen, daß weder die von Kende vorgenommene Verknüpfung des Begriffs „Krieg“ mit dem Einsatz von staatlichem Kampfpersonal zumindest auf einer Seite noch die Kriterien kontinuierlicher und zentral gelenkter Kampfhandlungen logisch zwingend sind.  Sie leuchten nur deshalb ein, weil sie dem tradierten vormodernen Idealtyp des „Krieges“, wie ihn Rousseau im Auge hatte, nahekommen: gewohnheitsmäßig assoziieren wir „Krieg“ mit organisierten, und zwar in der Tat zumindest auf einer Seite von Staats wegen organisierten Kampfhandlungen.  Nur erhebt sich die Frage, inwieweit die Trennung solcher Formen von Gewalt, die den Kende’schen Kriterien entsprechen, von anderen heutzutage tatsächlich sinnvoll ist.  Die Frage zu stellen, heißt nicht unbedingt schon, sie zu beantworten: vielleicht ist die Unterscheidung tatsächlich sinnvoll, vielleicht aber auch nicht oder jedenfalls nicht immer und überall.  Zum kritischen Umgang mit dem Begriff „Krieg“ gehört es jedenfalls, darüber nachzudenken.

Bereits Friedrich von Gentz scheute vor fast zweihundert Jahren davor zurück, den Begriff „Krieg“ im Sinne der Kende’schen Kriterien zu verengen.  Er selbst gebraucht zwar, zeittypisch, den Ausdruck normalerweise ausschließlich zur Bezeichnung des bewaffneten Konflikts zwischen Staaten: dieser wiederum ist für ihn die Folge der Anarchie und relativen Rechtlosigkeit des Verhältnisses der Staaten untereinander.  Die Polarität, auf die es eigentlich ankommt, ist aber für Gentz nicht die zwischen „Krieg“ und Frieden, sondern die zwischen Gewalt und Recht.  Die völlige Verwirklichung des Rechtes läuft für ihn auf das völlige Ende der Gewalt hinaus, sowohl in der binnen- wie in der zwischenstaatlichen Sphäre; der Unterschied zwischen beiden ist in der Praxis nur ein relativer, indem die Verwirklichung des Rechtes innerhalb der Staaten — so wie Gentz sie kannte — schon weiter fortgeschritten war.  Dennoch „ist selbst der Zwang, wodurch die Gesellschaft in tausend Fällen ihre Mitglieder zur Unterwürfigkeit führen und ihren Beschlüssen Nachdruck verschaffen muß, eine Art von beständigem Kriege…  Selbst im Schoße der bürgerlichen Ordnung ist immer nur ein relativer, nie ein absoluter Friede zu finden.“[9]

Gentz kannte keine totalitären Staaten.  Unser Jahrhundert hat damit seine Erfahrungen gemacht, und sie laufen darauf hinaus, daß Regimen wie denen Hitlers und Stalins mehr Menschen zum Opfer fallen können als vielen „Kriegen“.  Ein zeitgenössischer IB-Theoretiker, Kenneth Waltz, zieht daraus umso emphatischer dieselbe Konsequenz wie Gentz:  „Wenn das Fehlen von Regierung mit der Gefahr von Gewalt einhergeht, so tut das Vorhandensein von Regierung es auch.  (…)  Zwischen manchen Staaten ist zu manchen Zeiten das tatsächliche oder erwartete Vorkommen von Gewalt gering.  Innerhalb mancher Staaten ist zu manchen Zeiten das tatsächliche oder erwartete Vorkommen von Gewalt hoch.  Die Anwendung von Gewalt, oder die ständige Furcht vor ihrer Anwendung, ist kein hinreichender Grund, internationale und Innenpolitik zu unterscheiden.“[10]

Sowohl Gentz als auch Waltz geht es um die Feststellung, daß staatlich gelenkte organisierte Gewalt kein Merkmal nur des zwischenstaatlichen Bereichs sei.  Beide gehen dabei vom Bild des „Krieges“ als eines in aller Regel zwischenstaatlichen Konflikts aus.  Waltz tut dies noch 1979 genauso selbstverständlich wie Gentz im Jahr 1800 — wenn er von der Gewaltpräsenz innerhalb von Staaten spricht, so denkt er, wie der Kontext seiner Äußerungen deutlich macht, offensichtlich durchaus nicht an „Bürgerkrieg“.  Es würde sich allerdings lohnen, den Formen der Gewaltpräsenz auch innerhalb des Staates etwas genauer nachzuspüren, zumal in der heutigen Zeit, die vielerorts durch eine diffuse, eben nicht mehr ausschließlich auf den Staat konzentrierte Gewaltpräsenz charakterisiert scheint.  An dieser diffusen Gewaltpräsenz mag der Staat seinen mehr oder minder hohen Anteil haben, aber oft weniger in dem Sinn, daß die Gewalt primär auf ihn zurückzuführen ist, als daß er teilhat hat an einem ohnehin in der Gesellschaft hohen Gewaltniveau.  In diese Richtung gehen Gedanken Hans Magnus Enzensbergers, der von der oft zum Selbstzweck gewordenen Gewalttätigkeit nicht oder nur noch schwach in die Gesellschaft eingebundener Individuen und Gruppen als dem „molekularen Bürgerkrieg“ spricht.[11]

Es scheint in der Tat gerechtfertigt, angesichts des Stellenwerts dieser Erscheinung auch sie unter die Rubrik „Krieg“ einzuordnen — wenn sie denn überhaupt angewandt werden soll und wenn schon soviel anderes dort offenbar Platz hat.  Kennzeichen des „molekularen Bürgerkriegs“ ist, daß er eben nicht oder nicht primär vom Staat ausgeht, selbst wenn dessen Sicherheitskräfte unweigerlich darin verwickelt werden.  Vielmehr handelt es sich bei der Symptomatik dieser Erscheinung um eine solche des Gesellschaftsversagens.  Für Enzensberger sind z.B. fremdenfeindliche Übergriffe bei uns ebenso Bestandteil dieser Symptomatik wie der völlige Zusammenbruch staatlicher Ordnungen, wie er in den letzten Jahren besonders in Afrika gehäuft zu beobachten war.  Zwischenstufen stellen beispielsweise die no go areas amerikanischer Innenstädte dar, oder auch die townships Johannesburgs oder Kapstadts.  Das Südafrika der Apartheid bietet ein besonders anschauliches Beispiel für eine Kultur der Gewalt, die durch große Teile der Gesellschaft hindurchdiffundiert.  Sie ging einerseits vom staatlichen Repressionsapparat aus, andererseits aber ebenso von Schwarzenorganisationen, die eine mörderische, oft keinerlei politischer Ratio mehr folgende Stadtguerilla eben nicht nur gegen den weißen Staat, sondern ebenso gegeneinander lieferten.[12]

 

 

III

Es ist deutlich, daß wir es bei der Vokabel „Krieg“ mit dem zu tun haben, was man als einen „schillernden Begriff“ zu bezeichnen pflegt.  Es wäre unsinnig, sie gänzlich verbannen zu wollen; worum es mir geht, ist die Darlegung, daß sie für die Zwecke sozialwissenschaftlicher Analyse heutzutage ungeeignet ist.  Ändern ließe sich das nur dadurch, daß man sie mithilfe einschränkender Kriterien auf bestimmte Erscheinungsformen gesellschaftsrelevanter Gewaltanwendung festlegt.  Über diese Kriterien Einigkeit zu erzielen, dürfte allerdings schwierig sein, zumal wenn man dabei darauf verzichtet, sich an traditionalen, aber heute nicht mehr sonderlich relevanten Modellvorstellungen wie der vom „Krieg“ als Duell zwischen Staaten zu orientieren.  Stattdessen dürfte es besser sein, ohne solche vorgefaßten Modellvorstellungen die diversen Formen dessen, was ich gerade gesellschaftsrelevante Gewaltanwendung genannt habe, gesondert zu erfassen und zu untersuchen, um erst dann gegebenenfalls Verwandtschaftsbezüge zwischen diesen Phänomenen zu erarbeiten.

Abschließend sei hier versucht, hinsichtlich der Entwicklung einiger dieser Phänomene seit Beginn der industriellen Moderne gewisse Tendenzen herauszuarbeiten.  Es ist dabei vielleicht sinnvoll, mit dem „klassischen“ „Krieg“ Rousseau’schen Typs, also dem bewaffneten Konflikt zweier Staaten oder Staatengruppen zu beginnen.

Der wesentliche Punkt hierbei ist, wie schon angedeutet, daß „Krieg“ als bewaffneter Konflikt souveräner Staaten mit den Bedingungen des Industriezeitalters nicht mehr vereinbar ist.  Hieraus unmittelbar den Schluß zu ziehen, diese Art des Konfliktes habe sich überlebt und gehöre der Vergangenheit an, klänge ausgesprochen naiv und würde der historischen Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts zu widersprechen scheinen — zumindest auf den ersten Blick.  Wir neigen infolgedessen immer noch dazu, „Krieg“ auch und gerade als Konflikt zwischen Staaten als ernsthafte Bedrohung unserer heutigen Gesellschaften anzusehen.  Wir sind uns selten der Tatsache bewußt, daß gerade die — zumindest in den westlichen entwickelten Staaten — sehr weit verbreitete und sehr tief sitzende Abneigung gegen den Krieg, der erwähnte „heilige Abscheu“ davor, selbst das Zeichen einer Tendenzwende ist.  Ebenso erinnern wir uns, wie bereits festgestellt, zu selten daran, wie sehr sich die Voraussetzungen des „Krieges“ als Folge der Industrialisierung gewandelt haben.

Auf diese Wandlung wurde bereits sehr früh hingewiesen, obwohl den betreffenden Stimmen damals wenig Einfluß beschieden war.  Jan Bloch, Norman Angell und Kurt Riezler wurden in diesem Zusammenhang bereits angesprochen.  Greifen wir letzteren als deutschsprachigen Repräsentanten dieser Denkrichtung heraus.  In seinen „Grundzügen der Weltpolitik in der Gegenwart“ betont Riezler die Auswirkungen der durch die Industrialisierung bedingten Interdependenz der Staaten:  „Die Vielgestaltigkeit der zu nehmenden Rücksichten hemmt die Bewegungsfreiheit der modernen Politik.  Der Idee nach steht ein jeder Staat letzten Endes jedem anderen in absoluter Feindseligkeit gegenüber.  Es ist aber bei der allgemeinen Verkettung überaus schwer, diese Feindseligkeit in offenem Konflikt hemmungslos zu betätigen.“[13]

Riezler geht also von einer „realistischen“ Grundvorstellung aus, bei der die Staaten in natürlicher Feindschaft nebeneinanderstehen und miteinander um die Macht wetteifern.  Dies führe zu einem natürlichen Expansionsstreben jedes Staates.  Obgleich aber auf dem Globus keine weiteren Territorien mehr zur Landnahme zur Verfügung stünden, gebe es inzwischen die Möglichkeit eines friedlichen Wettbewerbs der Staaten trotz deren Neigung zur Expansion.  Dies aufgrund der Tatsache, „daß infolge der Entstehung der modernen Industrie der Grund und Boden nicht mehr die ausschließliche Vorbedingung der Expansion ist.  In früheren Zeiten hieß Wachstum schlechtweg Eroberung von Grund und Boden.  Das ist heute anders geworden.  Neben die politische Expansion ist die wirtschaftliche getreten.  Ein Land kann wachsen an Reichtum, an Macht und an Menschen, mit der Quantität und Qualität der Waren, die es herstellt und für die es Absatz findet.  Ein Industrieland kann seine Bevölkerung halten, ohne den Grund und Boden zu vermehren.“[14]

Unter diesen Bedingungen ist bewaffneter Konfliktaustrag ebenso unnötig wie unsinnig geworden.  „Der Kampf um die Absatzmärkte unterscheidet sich nun von dem Kampf um den Grund und Boden dadurch, daß er kein schroffes Gegeneinander des unausweichlichen Gegensatzes notwendig macht, sondern ein Nebeneinander der friedlichen Rivalität zuläßt — aus dem einfachen Grunde, weil der Boden ein starres und nicht vermehrbares Objekt ist, das nur der eine oder der andere besitzen kann, während die Aufnahmefähigkeit des Absatzmarktes sich steigern läßt, und, solange sie gesteigert werden kann, der Erfolg des einen mit dem Erfolg des anderen sich verträgt.  Das ist nun das Neue, das der wirtschaftliche Charakter der Zeit der Konstellation des Nebeneinander hinzufügt, daß die Erfolge zweier Rivalen nicht nur nebeneinander hergehen, sondern ursächlich aufs engste miteinander zusammenhängen, dergestalt, daß die Erfolge des einen auch dem anderen zum Vorteil gereichen können.“[15]

Hinzu kommt weiter, daß bewaffneter Konflikt zwischen Industriestaaten für diese viel einschneidendere Folgen hat als vorindustrieller „Krieg“ für die damaligen Staaten.  „Was sich gegen früher verschoben hat, das ist, wenn man so sagen darf, die Kalkulation der Kriege, das Verhältnis der Aufwendungen und des Risikos auf der einen und des möglichen Nutzens auf der anderen Seite.  Die Kriege früherer Jahrhunderte wurden mit viel geringerem Aufwand an Menschen und Geld geführt und griffen viel weniger tief in das gesamte Leben des Volkes ein.  Die modernen Staaten setzen Millionenheere in Bewegung und geben Milliarden aus.  Sie rühren, wenn sie Kriege führen, an die Grundlagen ihres verwickelten Wirtschaftslebens…“  Deutlich sei, „daß die Lasten eines modernen Krieges die aller früheren ceteris paribus um ein Vielfaches übersteigen werden.  Dagegen sind die diesen Lasten gegenüberstehenden Siegespreise nicht in gleichem Maß gewachsen.“

Sie können nämlich weiterhin nur im Erwerb zusätzlicher Territorien bestehen.  Der sei nun aber nicht nur viel schwieriger geworden als früher, hinzu komme auch noch, „daß die Erwerbung fremden Bodens in dem Zeitalter des Nationalismus unter Umständen ein fragwürdiger Gewinn sein kann.“  Riezler faßt zusammen: „Das Risiko ist stärker gewachsen als der Nutzen.“[16]

Dies der Ausblick auf die Welt aus einem Fenster der Berliner Wilhelmstraße ausgerechnet im Sommer 1914: Riezler bekleidete zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Überlegungen eine Stellung im Auswärtigen Amt des Kaiserreichs und war enger Vertrauter des Reichskanzlers Bethmann Hollweg.[17]  Wie die Zitate zeigen, spricht er vom zwischenstaatlichen „Krieg“ des Industriezeitalters als einer möglichen Zukunft.  Die Probe aufs Exempel war noch nicht gemacht: „…über die wirtschaftlichen Folgen eines modernen Krieges zwischen Großmächten besitzt das Zeitalter noch so gut wie keine Erfahrung.  Die Meinungen gehen auseinander; die Komplexität der Faktoren macht jede Kalkulation unmöglich.“[18]  Riezler war sich indes sicher:  „Für alle europäischen Großmächte bedeutet ein verlorener Krieg gegen eine Großmacht, menschlicher Voraussicht nach, den politischen und wirtschaftlichen Ruin…“  Eine Ausnahme bilde, u.a. schon aufgrund seiner Dimensionen, nur Rußland, das „im Falle einer Niederlage höchstens den Sieg der Revolution und eine Verlangsamung seiner Entwicklung zu fürchten hat.“[19]

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs fast unmittelbar nach der Veröffentlichung von Riezlers Buch dürfte dessen Rezeption minimiert haben — schien das Tagesgeschehen doch die Thesen des Autors in schroffster Form zu widerlegen.  Riezler selbst ist der Geschichtsschreibung besser bekannt aufgrund seiner Rolle bei der Kompilation des „Septemberprogramms“ mit seinen expansionistischen deutschen Kriegszielen.  Ich weiß nicht, ob sich Riezler zu diesem Buch später noch einmal geäußert hat — er starb zwar erst 1955, doch selbst aus dem zeitlichen Abstand von vierzig Jahren konnte er wohl kaum umhin, seine früheren Überlegungen als irrig anzusehen.

Denn daß auch das Ende des Ersten Weltkriegs kein allgemeines Zeitalter des Friedens eingeleitet hatte, daß die Pariser Friedenskonferenz, der „Sieg der Revolution“ in Rußland das weiter vorhandene Konfliktpotential in keiner Weise entschärft, sondern im Gegenteil noch vermehrt hatten, das war den Zeitgenossen bewußt, und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zwanzig Jahre später kam weitaus weniger überraschend als der des Ersten.  Das zwanzigste Jahrhundert mußte danach endgültig als ein Zeitalter des „Krieges“ erscheinen und eben nicht der zunehmenden Entschärfung zwischenstaatlicher Konflikte.  In der Disziplin IB, aber auch weit über sie hinauswirkend herrschte nun unangefochten der „Realismus“, der Glaube an die überzeitliche Unwandelbarkeit der zwischenstaatlichen Beziehungen und ihre unausweichliche Geprägtheit durch — auch bewaffnete — Konflikte.  Der relativen weltpolitischen Stabilität, die sich nach 1945 einspielte, wurde infolgedessen niemals getraut.  Im Gegenteil: die Nachkriegsära war durch Furcht vor dem Dritten Weltkrieg geprägt und überhaupt vor allem, was mit „Krieg“ zu tun hatte: zum Beispiel den gewaltigen Rüstungsanstrengungen vor allem der beiden Großmächte.

Lassen wir Riezler einmal weiterreden.  „Das Rüstungsproblem ist vielleicht das am meisten erörterte, eindringlichste und schwierigste Problem der Gegenwart. (…)  Der kosmopolitisch orientierte Teil der Zeitgenossen spricht von einem Rüstungswahnsinn…; auch andere, die der Meinung sind, durch das Rüsten werde … an den Kräfteverhältnissen nichts geändert, beklagen das Wettrüsten, weil sie es für vergeblich halten.  Bekanntlich hat dieser Zustand … eine organisierte Gegenbewegung hervorgerufen, die sich die Abrüstung oder wenigstens die Einschränkung der Rüstungen zum Ziele setzt.“[20]

Wenn alle betroffenen Staaten behaupteten, ihre Rüstungen dienten nur Verteidigungszwecken, so stoße das zwar allseits auf Mißtrauen, und auch keiner der Staaten nehme es der jeweiligen Gegenpartei ab.  Dennoch handle es sich dabei nicht einfach um Heuchelei.  „Man kann also ruhig an den defensiven Charakter der modernen Rüstungen glauben, wenn man darunter versteht, daß nirgends die Absicht auf kriegerische Eroberung hinter ihnen lauert.  Die modernen Staaten bedürfen ihrer, um bei der Konkurrenz des Nebeneinander der Stimme ihrer Unterhändler Gewicht zu verleihen, um auf ein mögliches Gegeneinander, das sie, solange die Konstellation des Nebeneinander dauert, vermeiden wollen, vorbereitet zu sein.  Daher ist unser Zeitalter das der größten Kriegsrüstungen und des längsten Friedens.  Dieser eigenartige Zustand erscheint vielen als widersinnig, ist es aber nicht.  Es ist nicht wahr, daß die modernen Großstaaten zwar rüsten, aber von ihren Rüstungen keinen Gebrauch machen. (…)  Die Überlegenheit wird erstrebt, weniger um siegreiche Kriege kämpfen, als um sie denken und vom Gegner denken lassen zu können.  Da aber jeder Staat das gleiche Streben hat, wird das Rüsten ein allgemeiner Wettlauf.  Das Paradoxon, daß in unserer Zeit anstelle der Kriege die Rüstungen getreten seien, enthält also einen Kern Wahrheit.“[21]

Einer direkten bewaffneten Auseinandersetzung werde bei aller Rivalität tunlichst aus dem Weg gegangen; stattdessen bemühe man sich immer wieder um eine „détente“ (Riezlers Ausdruck).  „Die heutige Politik der Großmächte kann ganz allgemein als die Politik des Aufschubs kriegerischer Auseinandersetzungen bezeichnet werden.  Die Organisation des Aufschubs kann als der Sinn der meisten Abmachungen gelten, die in den letzten Jahrzehnten zwischen den Großmächten abgeschlossen wurden.“[22]  Und je länger das Wettrüsten anhalte, desto stärker präge sich auch diese Furcht vor einem Waffengang aus:  „Je mehr gerüstet wird, desto mehr verschiebt sich das Mißverhältnis zwischen den Vorteilen eines Krieges und seinen Nachteilen zugunsten der letzteren und damit zugunsten des Friedens.“[23]

Die paßgenaue Anwendbarkeit dieser Riezler’schen Analysen auf den „Kalten Krieg“ halte ich für keineswegs zufällig.  Sie legt vielmehr den Schluß nahe, daß dieselben Tendenzen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wie auch in der Zeit nach dem Zweiten wirksam waren — eben die epochenspezifischen Tendenzen des beginnenden Industriezeitalters, die Riezler völlig richtig erkannt hatte.  Zu wenig aber hatten er und andere Autoren seines Schlages beachtet, daß hier wie in anderen Bereichen die durch den Anbruch der industriellen Moderne bewirkte Änderung der Verhältnisse viel schneller verlief als die korrespondierende Änderung der Denk- und Verhaltensweisen.  Daß es hierbei eine Entwicklung gegeben hat, gerade das zeigt freilich der unterschiedliche Ausgang der Ereignisabläufe von zirka 1870-1914 und 1945-1990.  Was dieser Entwicklung zugrundeliegt, ist ein offenkundiger Lerneffekt, verbunden mit einer weiter zunehmenden Ausprägung und Sichtbarwerdung der Faktoren, die den bewaffneten Konflikt zwischen „Großmächten“ heute für jeden sichtbar zur Wahnsinnstat machen: die Empfindlichkeit der heute extrem komplexen und interdependenten Staaten, Volkswirtschaften und Gesellschaften gegen Kriegseinwirkung und die gleichzeitige enorme Zerstörungskraft der Waffen, die das Industriezeitalter mit sich gebracht hat.  (Wirtschaftliche Interdependenz bestand zwar weniger zwischen den Blöcken als in ihnen, besonders im westlichen — das tat aber der Verwundbarkeit aller beteiligten Volkswirtschaften keinen Abbruch, erst recht angesichts der involvierten Zerstörungspotentiale.)  Es kann jetzt keine Rede mehr davon sein, daß das Zeitalter „über die wirtschaftlichen Folgen eines modernen Krieges zwischen Großmächten … noch so gut wie keine Erfahrung“ besitzt.  Das Gegenteil ist der Fall: nicht nur über die wirtschaftlichen, über alle Folgen eines solchen Krieges besitzen wir ziemlich eindringliches historisches Anschauungsmaterial.  Und über die Schlußfolgerungen, die daraus zu ziehen sind, gehen die Meinungen eben nicht mehr „auseinander“: hierüber herrscht mittlerweile der eingangs angesprochene Konsens.

 

 

IV

Wenn es nun aber tatsächlich so ist, daß der „Krieg“ Rousseau’schen Typs im Begriff steht, sich aus der Weltgeschichte zu verabschieden, wie kommt es dann, daß auch nach 1945 soviel von „Krieg“ zu hören gewesen ist?  Gantzel und Meyer-Stamer beispielsweise kommen unter Verwendung der Kende’schen Kriterien auf eine Gesamtzahl von nicht weniger als 159 „Kriegen“ nur für den Zeitraum 1945-84.  Meiner Auffassung nach beruht jedoch diese Wahrnehmung anhaltender Ubiquität des „Krieges“ eben auf einer Begriffsverwirrung, die wichtige politische und gesellschaftliche Entwicklungen verschleiert.  Das anhaltend hohe Gewaltniveau in vielen Teilen der Erde soll hier in keiner Weise heruntergespielt oder verniedlicht werden.  Es scheint mir aber sehr wichtig, die politischen und gesellschaftlichen Phänomene, die diesem hohen Gewaltniveau zugrundeliegen, nicht hinter dem popanzhaften Allerweltsbegriff „Krieg“ verschwinden zu lassen.

Fast unbestritten ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Befund, daß zumindest „Demokratien“ westlichen Typs keine bewaffneten Konflikte mehr untereinander führen.  Ob es wirklich die Verfassung und politische Kultur sind, die hier den Ausschlag geben, oder die Wirtschaftsform des fortgeschrittenen Industriekapitalismus, das ist im gegenwärtigen Kontext umso weniger entscheidend, als zwischen beiden Aspekten ein enger Zusammenhang zu bestehen scheint.  Selbst wo, an der Peripherie dieser Staatengruppe, Rückfälle in die Epoche der Staatenduelle vorkommen, da verdienen sie in Wahrheit kaum noch die Bezeichnung „Krieg“ im alten Sinn.  Der Falklandkonflikt zwischen Großbritannien und Argentinien war nur noch ein diminutiver Abklatsch einer solchen traditionellen Auseinandersetzung.  Dasselbe gilt für die gelegentlichen Zusammenstöße lateinamerikanischer Staaten untereinander, wie den „Fußballkrieg“ zwischen El Salvador und Honduras 1969 oder den Grenzkonflikt zwischen Peru und Ecuador zu Anfang dieses Jahres.  (Bezeichnenderweise verzichtet Costa Rica seit Jahrzehnten ganz auf eine Armee; auch Panama hat 1994 seine Armee abgeschafft.)

Was ist mit den „Stellvertreterkriegen“ der Zeit der sowjetisch-amerikanischen Konfrontation?  Ob man den Konflikt um Korea, den um Indochina oder den um Afghanistan nimmt: jedesmal haben wir es mit Auseinandersetzungen zu tun, bei denen die Involvierung raumfremder Mächte auf einen innerhalb dieser Länder bereits vorhandenen Konflikt aufgepropft wurde.  Es handelte sich in keinem Fall um primär zwischenstaatliche Auseinandersetzungen, sondern im Kern um interne Konflikte der jeweiligen Völker.  Nur läßt die weltpolitische Dimension, die diese Auseinandersetzungen annahmen, ihre lokalen Ursachen oft übersehen.[24]  Wohl verlieh die Teilung Koreas und Vietnams in zwei einander nicht anerkennende Staaten diesen Auseinandersetzungen einen Anschein von zwischenstaatlichem Konflikt, doch ist deutlich, daß hier nicht der klassische, sondern zumindest ein ganz neuer Typ eines solchen Konflikts vorliegt.

Wenn weiter der Koreakonflikt noch halbwegs in den Bahnen klassischer „Kriege“ zwischen Armeen verlief, so waren der Indochina- und der Afghanistankonflikt schon weitestgehend durch die Guerillataktik der letztlich überlegenen Seite geprägt.  Dieser Triumph der Guerillataktik ist ein deutlicher Indikator für die häufig diffuse Natur der politischen Gewalt im heutigen Zeitalter.  Die Gewalt diffundiert aus der traditionellen staatlichen Trägerschaft heraus und, unter starker Dezentralisierung, in die betroffenen Gesellschaften hinein, und wenn auch der Staat sich mehr oder weniger erfolgreich bemühen mag, die Kontrolle darüber zu bewahren, so hat diese Erscheinung doch ihre eigene Dynamik.  Dieselbe Logik der Entwicklung neuartiger, dezentraler, diffuser Formen der politischen Gewalt liegt dem Aufstieg des Terrorismus zugrunde.

Daß Staaten versuchen können, diese Formen der Gewalt zur Durchsetzung bestimmter Ziele zu benutzen, versteht sich von selbst, rechtfertigt aber nicht die einseitige Konzentration der meisten Beobachter auf diese staatliche Komponente.  Die Einseitigkeit wird durch den Gebrauch des Wortes „Krieg“ in diesem Zusammenhang gefördert.  Wichtig wäre es dagegen, die gesellschaftliche Seite des Phänomens stärker zu beachten, die Durchdringung des gesellschaftlichen Gefüges durch Gewalt und die Eigendynamik dieses Prozesses.  Die Terrorisierung der nord- und südvietnamesischen Bevölkerung durch Vietminh und Vietcong, die Repression und der Gegenterror der Saigoner Regierung, das Terrorregime Pol Pots in Kambodscha mit seinen hunderttausenden von Opfern waren ebenso integraler Bestandteil des Indochinakonflikts wie der direkte Kampf der nordvietnamesischen Führung gegen die Truppen Saigons und Washingtons oder ihr Angriff auf das Pol Pot-Regime 1978.  Die Kapitulation Saigons 1975 führte nicht einmal zu einem Ende der Gewalt innerhalb des wiedervereinigten Vietnams selbst.  Vielmehr setzte sich der Konflikt in anderer Form fort: auf der Tagesordnung standen nun die „Umerziehung“ des Südens und die Kampagne gegen die chinesische Minderheit im ganzen Land.  Das Flüchtlingselend der „boat people“ war die auch auswärts unübersehbare Folge.  Ebenso in Afghanistan: der Rückzug der Sowjets 1988, ihr Abkommen mit den USA 1991 über die Einstellung aller Militärhilfe an die kämpfenden Parteien haben bekanntlich dem internen Konflikt der Afghanen untereinander mitnichten ein Ende bereitet (so wie die Einmischung Moskaus ihn auch nicht ausgelöst hatte).  Sie haben vielmehr die durchaus autochthone Dynamik dieses Konflikts erst recht anschaulich gemacht.

Es handelt sich hierbei weder um Formen des klassischen „Krieges“ noch auch des klassischen „Bürgerkriegs“, sowenig wie bei den Vorgängen in Ruanda, Somalia oder auch Bosnien.  Vielmehr liegt hier in erster Linie ein allgemeines Staats- und Gesellschaftsversagen vor.  Das ist es, wovor sich unsere heutigen Gesellschaften weit mehr zu fürchten haben als vor klassischen Formen der militärischen Auseinandersetzung.  Enzensberger hat recht, wenn er darauf verweist, daß die „Programme“ der kämpfenden Parteien zunehmend vorgeschoben wirken: man habe es heutzutage „nicht mit Überzeugungen, sondern mit deren Faksimiles zu tun.“[25]  Auch ein Experte des Nationalismus wie Eric Hobsbawm vertritt die Ansicht, daß der gegenwärtigen Virulenz von Nationalismus und Fremdenhaß und den mancherorts daraus resultierenden blutigen Konflikten keine echten politischen Programme zugrundelägen, daß hier vielmehr höchstens die Phraseologie des klassischen Nationalismus usurpiert und travestiert werde.  „Immer wieder erscheinen solche von ethnischer Identität getragenen Bewegungen als Reaktion der Schwäche und Angst, als Versuche, Barrikaden gegen die Mächte der modernen Welt zu errichten… (…)  Die Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, die in diesem Hunger nach Zugehörigkeit, und somit in der ‚Politik der Identität‘ — nicht unbedingt der nationalen Identität — Ausdruck findet, ist ebensowenig eine bewegende Kraft der Geschichte wie der Hunger nach ‚Recht und Ordnung‘, der eine ähnlich verständliche Antwort auf einen anderen Aspekt gesellschaftlicher Desorganisation darstellt.  Beide sind eher Symptome von Krankheit als Diagnosen, geschweige denn Therapien.“[26]  Wenig industrialisierte, arme Gesellschaften sind für diese Krankheit weit anfälliger als reiche und entwickelte, aber immun ist keine.  Infolgedessen ist die Subversion heute ein weitaus verbreiteteres politisches Kampfmittel, sowohl seitens bestimmter Staaten als auch nichtstaatlicher Gruppen, als der direkte Einsatz offiziell „militärischer“ Mittel.

Selbst und gerade diejenige Weltregion, wo zwischenstaatliche bewaffnete Konflikte relativ „klassischer“ Ausprägung noch bis in die jüngste Vergangenheit stattfanden, der Nahe wie auch der Mittlere Osten, macht diese Tendenz sehr deutlich.  Was den Nahen Osten angeht, so scheint sich, bei aller gebotenen Vorsicht bei Voraussagen, die Region von den Bedingungen ziemlich weit wegbewegt zu haben, unter denen noch die israelisch-arabischen Waffengänge von 1967 und 1973 stattfanden.  Keiner der betreffenden Staaten scheint gegenwärtig ernsthaft einen klassischen Angriff des Typs zu erwägen, wie ihn Israel 1967 und die arabischen Staaten 1973 initiierten.  Hauptsächliche Kampfmittel sowohl der Staaten als auch anderer Gruppen in der Region sind heute eindeutig Terrorismus und Subversion bzw. darauf ausgerichtete Gegenmaßnahmen.  Die Armeen werden nicht im „Krieg“ gegen andere Staaten, wenn auch zuweilen in ihnen eingesetzt: das Paradebeispiel ist Libanon und die Rolle der syrischen und israelischen Streitkräfte dort in den vergangenen zwanzig Jahren.  Im Nahen Osten ist zwischenstaatlicher „Krieg“ zwar noch keineswegs unvorstellbar; dieses traditionelle Mittel der Politik hat aber auch dort unverkennbar an relativer Bedeutung verloren.

Auch im Mittleren Osten dürfte in dieser Hinsicht ein Lernprozeß im Gang sein.  Wenn die militärischen Eskapaden Saddam Husseins etwas bewirken müssen, so ist es die Demonstration der Unsinnigkeit traditioneller militärischer Aggression unter den heutigen Bedingungen.  Die jahrelang anhaltende, extrem verlustreiche Pattsituation, die dem Angriff Iraks auf Iran 1980 folgte, ist ebensowenig eine Ermunterung zur Wiederholung solcher Unternehmungen wie Saddams Fiasko beim Versuch der Annexion Kuwaits.  Hierbei ist erstens zu beachten, daß Saddams Aktion gegen diesen kleinen Nachbarstaat die Tat eines Desperados war.  Man annektiert heute nicht mehr.  Ausnahmen sind allenfalls noch dort möglich, wo die Expansion auf Kosten unterentwickelter, peripherer, staatlich nicht gefestigter Gebiete erfolgt, und wie der Versuch der Einverleibung West-Saharas durch Marokko, West-Irians und Ost-Timors durch Indonesien zeigt, ist selbst das nicht per Handstreich und ohne sehr erhebliche auch politische Kosten zu bewerkstelligen.  Die Kontrolle fremder Staaten ist heute fast nur noch durch deren Satellisierung möglich: klüger als Saddam Hussein, hat Präsident Assad von Syrien Libanon trotz der langjährigen Präsenz seiner Armee dort so wenig annektiert wie Vietnam Kambodscha nach dem Sturz des Pol Pot-Regimes.  (Es ist in diesem Zusammenhang eine bemerkenswerte ironische Pointe, daß Assad sich die Duldung der USA für das syrische Protektorat in Libanon im Gegenzug für seine Unterstützung der USA bei der Befreiung Kuwaits zu verschaffen vermochte.  Kaum war die alliierte Intervention gegen Saddam vorbei, sicherte sich Assad seine Beute, indem er den libanesischen Präsidenten im Mai 1991 zur Unterzeichnung eines im Titel an Orwells „Neusprech“ gemahnenden Abkommens über „Brüderschaft, Zusammenarbeit und Koordinierung“ der beiden Länder zwang.)[27]  Eine offene Mißachtung klarer völkerrechtlich sanktionierter Grenzen wird heute von den allermeisten Regimen aus guten Gründen vermieden.  Die provokatorische Signalwirkung einer solchen Vorgehensweise ist zu stark und ruft zu leicht eine geharnischte Reaktion der Weltgemeinschaft hervor, wie das Beispiel Kuwait eben zeigt.

Zweitens ist zu Kuwait zu sagen, daß die militärische Gegenreaktion, die die Annexion hervorrief, wiederum kein klassischer „Krieg“ mehr war, sondern im wesentlichen eine Polizeiaktion seitens einer von den USA angeschobenen Koalition status quo-orientierter Regierungen.  Was immer man von dieser Aktion halten mag, es ist einfach nicht hilfreich, in ihr eine Fortschreibung jenes vermeintlichen Urphänomens „Krieg“, eine neuerliche Ausprägung jener Kategorie menschlichen Gruppenverhaltens zu sehen, die ebenso den Ersten und Zweiten Weltkrieg umfaßt.  Dasselbe gilt für die so zögerlich beschlossenen NATO-Einsätze in Bosnien.

Angesichts der Erfolge beim Durchgreifen gegen Saddam Hussein äußerte US-Präsident Bush „By God, we have kicked the Vietnam syndrome once and for all [Bei Gott, wir sind das Vietnam-Syndrom ein für allemal wieder los]“.[28]  Was er damit sagen wollte war, daß nach dem Trauma der Niederlage in Vietnam sich die USA nun wieder bewiesen hätten, militärisch erfolgreich im Ausland intervenieren zu können.  Indes zeigt die Vorgehensweise der USA bei der Golfintervention sehr deutlich, daß aus den Ereignissen in Vietnam Folgerungen gezogen wurden: Lerneffekt auch hier.  Die Intervention wurde von einer Koalition getragen, die auch den Segen der Vereinten Nationen hatte — dies war zwar angesichts des Übergewichts der USA von geringer militärischer, dafür aber von großer politischer Bedeutung und unterstrich den Charakter der Intervention nicht als klassischer „Krieg“, sondern als status quo-orientierte Polizeiaktion.  Weiterhin wurde peinlichst und mit geradezu verblüffendem Erfolg darauf geachtet, die eigenen Verluste (die zur Zeit des Vietnamkonflikts soviel politischen Schaden an der „Heimatfront“ verursacht hatten) zu minimieren.  Die knapp sechswöchigen Kampfhandlungen kosteten 183 US-Soldaten das Leben, wovon 35 irrtümlich durch das Feuer der eigenen Seite umkamen; die übrigen Staaten der Koalition verloren 76 Soldaten.[29]  Die über mehr als ein Jahrzehnt sich hinziehende Intervention der USA in Vietnam, so wurde damals pointiert angemerkt, hatte 58 151 ihrer Soldaten das Leben gekostet.[30]

Auf irakischer Seite waren die militärischen und zivilen Opfer weitaus höher, wenn auch genaue Angaben kaum zu erlangen sind.  Sie dürften sich auf um die 100 000 Soldaten und mehrere tausend Zivilisten belaufen haben.[31]  Dieser Blutzoll ist nun freilich mit mindesten gleichem Recht auf das Konto des gewalthaften Charakters des irakischen Regimes zu setzen wie auf das des „Krieges“ als solchen — genau wie die Opfer des irakisch-iranischen Konflikts (rund 100 000 Kampftote auf irakischer Seite, rund 400 000 auf iranischer) oder die wahrscheinlich ebenfalls sechsstelligen Opfer der anti-kurdischen und anti-schiitischen Pogrome der Bagdader Regierung.[32]

 

 

V

Die Golfintervention hat — genau wie die halbherzigen Interventionen in Somalia, Ruanda oder Bosnien — seinerzeit eine erregte Diskussion entfacht, in der das Wort „Krieg“ viel zu oft vorkam.  Selbst die Verantwortlichen bedienten sich der Begrifflichkeit des „Krieges“ wie auch seiner Theatralik — man denke an die New Yorker Siegesparade für die heimkehrenden US-Truppen.  In den USA behandelte der überwiegende Teil sowohl der Politiker wie der Gesellschaft die ganze Unternehmung als patriotischen Akt und nicht in erster Linie als einen Dienst an der globalen Allgemeinheit (wenn auch Bushs ungeschicktes Hantieren mit dem Schlagwort der zu schaffenden „neuen Weltordnung“ diesen Zweck mit verfolgte); umgekehrt wurde sie anderswo als brutale Durchsetzung egoistischer US-amerikanischer Interessen angeprangert.  Das zeigt, welche Probleme das Erbe des „Krieges“ und der damit verbundenen überkommenen Denkweisen noch immer aufwirft.  So sehr die Entlegitimierung, ja Tabuisierung des bewaffneten zwischenstaatlichen Konflikts zu begrüßen ist, so wenig können wir es uns doch leisten, im Namen des Gewaltverzichts vor der innerhalb vieler Staatsgrenzen um sich greifenden Gewalt die Augen zu verschließen.  Für den offenen Angriff auf einen selbständigen Staat, den die Golfintervention bedeutete, war deshalb relativ viel Unterstützung in der Weltöffentlichkeit zusammenzubringen, weil dieser Angriff nur die Entgegnung auf einen vorhergehenden ebensolchen Angriff darstellte.  Das war aber, wie bereits betont, ein Sonderfall: eklatante Grenzverletzungen werden beim bewaffneten Austrag politischer oder gesellschaftlicher Konflikte heute nach Möglichkeit vermieden, die Kämpfe finden innerhalb existierender Grenzen statt.  (Nicht einmal die bosnischen Serben suchen ja offen den Anschluß an Serbien, sondern verfolgen offiziell das Ziel eines Staates innerhalb des existierenden bosnischen Territoriums.)

Deshalb tut sich die status quo-orientierte Mehrheit der Staaten und der Weltöffentlichkeit so schwer, bewaffneten Ordnungsmaßnahmen in Ruanda oder Bosnien ihre Unterstützung zu gewähren.  Sie verhält sich im übrigen völlig erratisch: der Tschetschenienkonflikt erregt die Gemüter und führt zu Forderungen nach einem Durchgreifen gegen Rußland, was zwar vielleicht verständlich, aber schon aus praktischen Gründen kaum machbar ist; andere mörderische Krisenherde wie Sri Lanka — wo es gegenwärtig nicht viel friedlicher zugeht als in Bosnien — interessieren hingegen bei uns kaum jemanden.

Es kann nicht angehen, im Namen des mit dem archaischen Konzept des zwischenstaatlichen „Krieges“ assoziierten Pazifismus die Eskalation von Gewalt innerhalb von Staatsgrenzen zu tolerieren.  Wenn nicht gegen große Staaten wie Rußland, so doch gegen mittlere und kleine wie Irak oder Ruanda kann die Weltgemeinschaft mit Erfolg intervenieren.  Eine der Voraussetzungen dafür ist aber, daß solchen Ordnungsmaßnahmen der Ruch des „Krieges“ genommen wird.

Die Prognostiker des klassischen „Krieges“ unter den Bedingungen der industriellen Moderne, wie Angell oder Riezler, hatten recht: diese Form des Konfliktaustrags sind wir, so scheint es zumindest gegenwärtig, erfolgreich zu „verlernen“ im Begriff.  Was sie nicht vorausgesehen hatten war die Diffusion der Gewalt in andere Kanäle, die mit diesem Prozeß einhergegangen ist.  Friedrich von Gentz schrieb im Jahr 1800 in dem bereits zitierten Aufsatz, man müsse „die Kriege der Staaten wie Ableiter betrachten, an denen der einmal vorhandene Stoff der feindseligen Neigungen des Menschen, der sich selbst überlassen alles verwüsten und jede rechtliche Verbindung sogar unter einzelnen verhindern würde, auf bestimmte Punkte konzentriert und gleichsam in bestimmte Kanäle verwiesen wird.“[33]  Die Feststellung scheint aus heutiger Sicht verblüffend prophetisch: dem Niedergang des zwischenstaatlichen „Krieges“ korrespondiert im späten zwanzigsten Jahrhundert in der Tat der Aufstieg und die Ausbreitung des bewaffneten Chaos oder doch der bewaffneten Willkür.  Hier steht heute der Feind.

 

Andreas Osiander

Institut für Politikwissenschaft

Humboldt Universität zu Berlin

Oktober 1995



[1]  Siehe z.B. Jan Bloch, Die wahrscheinlichen wirtschaftlichen und politischen Folgen eines Krieges zwischen Großmächten, Berlin/Bern 1901; Norman Angell, The Great Illusion, London 1910; Kurt Riezler (veröffentlicht unter dem Pseudonym „J.J. Ruedorffer“), Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart, Stuttgart/Berlin 1914.

[2]  Der Text ist abgedruckt in Kurt von Raumer (Hg.), Ewiger Friede.  Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg/München 1953, 211-48.

[3]  Gesellschaftsvertrag, Buch 1 Kapitel 4.

[4]  Für Nachweise s. von mir „Interdependenz der Staaten und Theorie der zwischenstaatlichen Beziehungen.  Eine theoriegeschichtliche Untersuchung“, in: Politische Vierteljahresschrift 36,2 (1995), 243-66, bsd. 253.

[5]  Herodot 8.3; Platon, Gesetze 629d.

[6]  Klaus-Jürgen Gantzel/Jörg Meyer-Stamer (Hg.), Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1984.  Daten und erste Analysen, München u.a. 1986, 8.

[7]  A.a.O. 17-25.

[8]  Platon, Gesetze 625e ff.; Hobbes, Leviathan, Kap. 13.

[9]  Friedrich von Gentz, „Über den Ewigen Frieden“ (zuerst 1800), in: Kurt von Raumer (Hg.), Ewiger Friede.  Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg/München 1953, 461-97, hier 488.

[10]  Kenneth N. Waltz, Theory of International Politics, New York u.a. 1970, 103 (meine Übersetzung).

[11]  Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt am Main 1993.

[12]  Eine eindringliche Schilderung dieser Zustände bietet Rian Malan, My Traitor’s Heart.  Blood and Bad Dreams: A South African Explores the Madness in His Country, His Tribe and Himself, London 1990.

[13]  A.a.O. (Anm. 1), S. 187-8.

[14]  S. 194-5.

[15]  S. 195-6.

[16]  S. 214-15.

[17]  Zu Riezlers Autorschaft vgl. Andreas Hillgruber, Deutsche Großmacht- und Weltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1977, 94.

[18]  A.a.O. S. 215.

[19]  S. 216.

[20]  S. 217.

[21]  S. 219-20.

[22]  S. 214.

[23]  S. 220.

[24]  Am wenigsten bekannt sind diese lokalen Konfliktursachen wohl beim Koreakrieg.  Vgl. hierzu aber Peter Lowe, The Origins of the Korean War, London/New York 1986.

[25]  A.a.O. (Anm. 11), 25.

[26]  E.J. Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780.  Programme, Myth, Reality, Cambridge 19922, 170, 177 (meine Übersetzung).

[27]  Näheres hierzu bei André Fontaine, Après eux, le déluge.  De Kaboul à Sarajevo, 1979-1995, Paris 1995, 563-4.

[28]  Zitiert in Walter LaFeber, „An End to Which Cold War?“ in: Michael J. Hogan (Hg.), The End of the Cold War.  Its Meaning and Implications, Cambridge 1992, 13-21, 17.

[29]  Zahlen nach Patrick Brogan, World Conflicts.  Why And Where They Are Happening, London 19922, 275.  Nicht eingerechnet sind indirekte Opfer durch Unfälle u.dgl.

[30]  International Herald Tribune 1.3.1991, S. 5.

[31]  Brogan 275.

[32]  Brogan 275, 324 ff.

[33]  A.a.O. (Anm. 9), 487.

Ein Gedanke zu „Plädoyer für die Abschaffung des „Krieges“ (1995)

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